Oben bleiben (11 Aug 2011)

Jüngst meldete sich ein Anhänger von Stuttgart 21 eigens bei den Parkschützern an, um neugierige Fragen zu stellen. Das fand ich richtig gut, denn ganz sicher leiden die Diskussionen um das Projekt an gegenseitigem Unverständnis.

Ich zitiere zunächst den Beitrag des S21-Freundes, damit der Kontext klar ist:

Ich wollte hier auch gar nicht über das pro und contra von S21 lamentieren. Ich denke es ist sachlich alles gesagt worden. Immobiliendeal, Kostensteigerung, Bauzeit, Baulärm, Mineralwasser, Gipskeuper, doppelte Gleisbelegung und und und. Viele viele sachliche Argumente der K21-Befürworter, wovon einige sich auch als wahrlich richtig erweisen!

Was aber so gar nicht in ein "PROler-Hirn" rein will ist die riesige vermutete Verschwörung, umgangsprachlich auch Filz bezeichnet. Ich verstehe noch nicht ganz, wie manche auf die Vermutung kommen, alles aber auch wirklich alles ist ein riesiges abgekartetes Spiel: die BILD, die ZEIT, die StN und wie sie nicht alle heissen, die CDU, die SPD, die FDP sowieso, die Unternehmensverbände, die Polizei und keine Ahnung wer noch...alle versuchen eine große Verschwörung durchzuziehen....die online-Umfragen? Alle getürkt sofern sie eher pro S21 sind. Die SMA? gekauft, als der Stresstest positiv war, jetzt aber seriös, da sie einen Kombi-Bahnhof vorschlägt....

Leute...ganz ehrlich...des kauf ich euch net ab.

Ich kenne so viele, die sagen, S21 soll gebaut werden. Und diese Leute sind nicht gekauft. Die haben ihre Meinung dazu, ohne dass sie sich täglich mit dem Thema S21 befassen. Des passt also mit den Umfragen, so leid mir das auch tut, das hier zu schreiben. Ich selbst bin auch einer von den PROlern, aber ich würde deswegen nicht demonstrieren gehen. Dafür ist mir die Sache nicht wichtig genug.

Ich verstehe viele hier und bewundere auch das Engagement, das manche hier zeigen. Hoffentlich werde ich jetzt nicht gleich als Troll verissen der sowas.

Also meine Frage: Woher kommt dieses tiefsitzende Misstrauen gegenüber allen öffentlichen Institutionen? So schlecht wie manchmal dargestellt kann doch alles gar net sein.

Das war, so fand ich, eine berechtigte Frage, und zudem vernünftig vorgetragen, was bei diesem Thema leider nicht immer der Fall ist. Folgendes fiel mir dazu ein.


Zunächst nochmal danke an XXXXX für die neuerliche Wortmeldung. Ich habe Respekt davor, dass Du Dich auf das "gegnerische Feld" wagst. Und ich denke auch, dass Du eine der Kernfragen im gesamten Konflikt ansprichst, wenn Du Dich wunderst, warum auf dieser Seite des Grabens den Institutionen misstraut wird, während auf der anderen Seite (also bei den Prolern) Vertrauen vorherrscht. In der Tat, hätte ich Vertrauen zu den Institutionen und den Projektbetreibern, dann würde ich die Entscheidung zwischen S21, S21+, K21 oder SK2.2 für eine eher technische halten und mich sicher nicht so engagieren.

Tatsächlich aber erzählt der Projektverlauf von S21 eine Geschichte der jahrzehntelangen Missachtung von Bürgerinteressen, der gemeinwohlfeindlichen Einflussnahme der Wirtschaft auf die Politik und der Willfährigkeit derselben gegenüber der Wirtschaft. Nun wird mancher sagen, dass es ja nichts Neues ist, dass Geld die Welt regiert. Neu für mich war aber, dass ich mir erstmals von einem Grossprojekt und dessen Begleitumständen ein eigenes Bild machen konnte, und mir aufging, dass auch die Kontrollinstanzen von Demokratie und Rechtsstaat systematisch versagt haben und weiter versagen.

Kontrolle soll in unserem Staat unter anderem ausgeübt werden von der Justiz. Die aber hat sich spätestens bei der Aufarbeitung des 30.9. disqualifiziert - während wir immer noch darauf warten, dass die Verantwortlichen für 400 Verletzte zur Rechenschaft gezogen werden, lässt die Justiz lieber mal per angedrohter Haussuchung bei Parkschützern frei verfügbare YouTube-Videos sicherstellen.

Auch die Polizei hat eine wichtige Rolle in unserem Rechtsstaat. Sie hat sich an rechtsstaatliche Regeln zu halten, weil sie auch eine Vorbildsfunktion ausübt. Stattdessen war vor allem unter Mappus mehr als nur offensichtlich, dass sie zum Befehlsempfänger von Parteiinteressen verkommen war. (Anmerkung: Ich habe immer wieder auch korrektes Verhalten der Polizei erlebt. Die Polizei ist nicht mein Gegner. Sie wurde und wird von der Politik verheizt.)

Auch die Parlamente versagen. Mappus hat verfassungswidrig am Parlament vorbei den EnBW-Deal durchgezogen, und das Parlament - um sein Königsrecht des Haushaltes betrogen - hat nicht mal pieps gesagt. Im Untersuchungsausschuss zum 30.9. wurden die Opfer verhöhnt, anstatt Zusammenhänge aufzuklären. Und dem Bundestag macht es offenbar auch nicht wirklich etwas aus, wenn er - wie vom DB-Bevollmächtigten Fricke bestätigt - bei den entscheidenden Diskussionen um die Neubaustrecke um Milliardenbeträge betrogen wird.

Und schliesslich war ich inzwischen bei vielen Ereignissen rund um S21 und K21 Augenzeuge und weiss aus eigener Anschauung, dass die Berichterstattung eines Grossteils der Presse nicht nur parteiisch ist (das lässt sich wohl nie ganz vermeiden), sondern sachlich falsch, und zwar nicht nur in Einzelfällen, sondern sehr oft. Das liegt einerseits an Denkblockaden, die sich in 58 Jahren schwarzer Herrschaft aufgebaut haben, andererseits schlicht an schlampiger und gehetzter Arbeit. (Weswegen ich den Journalistenstreik im Prinzip für eine gute Sache halte, denn hier geht es auch um die Würde dieses Berufs und die Möglichkeit, zumindest ansatzweise guten Journalismus zu betreiben.)

Du siehst: Es gibt viele Anlässe für mich, Vertrauen in die Institutionen zu verlieren. Vor S21 hatte ich noch geglaubt, dass sich ein politisch interessierter Mensch in unserem Lande durch das gründliche Studium verschiedener Leitmedien leidlich korrekt informieren lassen kann. Inzwischen weiss ich, dass ich mich geirrt habe. Ich denke heute, dass der Durchschnittsbürger in der Praxis keine echte Chance hat, sich ein echtes Bild der Dinge zu machen. Nur bei S21/K21 haben sich unzählige Menschen in ihrer Freizeit zu Experten oder doch zumindest zu gut informierten Laien in Verkehrs- und Schienenwesen fortgebildet und wissen daher oft mehr als ihre gewählten Volksvertreter und das Gros der Journalisten.

Als diplomierter Informatiker habe ich übrigens immerhin noch Vertrauen in Ingenieure, das ist mir geblieben. Es wird uns ja oft als Argument vorgeworfen, dass es nicht sein könne, dass all die talentierten Ingenieure bei der Bahn sich irrten oder schlechte Arbeit machten. Ich glaube aber gar nicht, dass die Ingenieure im Rahmen ihrer Vorgaben (!) schlechte Arbeit machen. Sie sind aber durch die politischen und ökonomischen Vorgaben bei diesem Projekt derart eingezwängt, dass sie bestenfalls aus einem Totalmurks einen Teilmurks entwickeln können. Auch die Ingenieure werden bei diesem Projekt verheizt. Azers Risikenliste und sein schneller Abgang danach sprechen Bände.

Ob ich mit diesen Gedanken für einen signifikanten Anteil der K21-Befürworter spreche, weiss ich nicht. Aber vielleicht gibt Dir das einen Einblick.

PS: http://www.parkschuetzer.de/statements/94165



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